Wo der Kopf befestigt ist

Ebikon/Basel, 14. Juli 2023 — Voja Anicic unterrichtet TherapeutInnen in dem, was ihn selber fasziniert: Faszien. Im Interview sagt er, welche Rolle sie bei Tinnitus und Migräne spielen und was er mit seinem eigenen Meniskus gemacht hat.

Bild von Voja Anicic, Faszien in der Manuellen Therapie; Foto: zVg

Voja Anicic ist Shiatsu-Therapeut, Kampf-, Rad- und Schwimm-Sportler, Komponist — und Faszien-Aficionado. Er hat die Weiterbildung FMT entwickelt, Faszien in der Manuellen Therapie, und unterrichtet sie national und international sowie bei uns an der Heilpraktikerschule Luzern. Foto: zVg

Voja, in der Ausschreibung zu deinem Nacken-Schulter-Faszien-Kurs habe ich gelesen, dass sich Migräne und Tinnitus über Faszien behandeln lassen. Das musst du kurz erklären.

Sowohl Tinnitus als auch Migräne sind medizinisch nicht restlos geklärte Phänomene. Man kennt bis heute die genauen Ursachen für diese beiden Beschwerdebilder nicht. Zuerst zum Tinnitus. Eine häufige Nebenerscheinung bei Tinnitus ist eine erhöhte Spannung im Nacken- und Schulterbereich. Das legt die Vermutung nahe, dass die Faszien des Nackens und der Schultern verkürzt sind und der ganze Bereich dadurch unbeweglich und eng wird. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Faszien des Kopfes und die darin verlaufenden Nerven. Die gezielte Entspannung dieser Strukturen hat einen positiven Einfluss auf den Tinnitus.

Und Migräne?

Da kommt meist eine Kombination aus mehreren Faktoren zusammen. Ein massgebender Faktor sind die Ernährung und der Zustand der viszeralen Bindegewebe, also unserer Organfaszien.

Sind die nicht im Bauch?

Ja, schon, aber diese viszeralen Bindegewebe beeinflussen die Faszien des Nackens und der Schultern, und das stark. Dies rührt aus einer einfachen anatomischen Verbindung unseres Kopfes mit dem Becken. Ja, der Kopf ist am Schambein befestigt! Du kannst diese Verbindung leicht selber ertasten.

Wie?

Leg dich auf den Rücken und ertaste dein Schambein, also den Knochen unterhalb deines Bauchnabels. Positioniere deine Finger leicht oberhalb des Schambeins und hebe deinen Kopf an. Ohne diese Verbindung zum Schambein wärst du nicht in der Lage, deinen Kopf vom Boden zu heben. Hier spürst du deutlich, wie eng Nacken und Abdomen verbunden sind.

Wenn du mich jetzt so krumm sitzen siehst – oder überhaupt: Wenn du eine Person stehen, laufen oder sitzen siehst, denkst du da manchmal, oha, die Faszien?

Ja, das gibt es. Man entwickelt mit der Zeit den Blick dafür, ob und welche Faszien betroffen sind. Es gab eine Zeit, da nutzte ich Café-Besuche in der Stadt für Schnell-Diagnose-Übungen. Wenn man draussen im Café sitzt und die Leute so vorbeigehen sieht, hat man ein paar Sekunden Zeit, den Gang, die Haltung und allfällige Ausweichbewegungen zu beobachten. Das ist sehr lehrreich, auch unterhaltsam. Man entwickelt da auch ein Auge für Ausweichbewegungen.

Was sind Ausweichbewegungen?

Das sind Bewegungen, die meist aus einer verletzungsbedingten Schonhaltung stammen. Ein Beispiel: Wenn beim Gehen der eine Arm schwingt und der andere in der Jackentasche hängt. Was denkst du, welches ist der problematische Arm?

Der Arm in der Jackentasche?

Ja, Rücken- oder Gelenkbeschwerden verändern die Haltung und den Gang der Menschen. Die Ausrichtung des Körpers zur Schwerkraft verändert sich und die Bewegungen werden eckig. Solche Rücken- und Gelenkschmerzen im weitesten Sinne würde ich zu den häufigsten Faszienbeschwerden zählen. Besonders die Lendenfaszie oder Lumbalfaszie gehört hier zu den häufigsten Wiederholungstätern. Schmerzen im Lendenbereich, im Kreuzbereich, entlang des Beckenkamms bis hin zu Bandscheibenvorfällen mit Schmerzen bis in die Beine sind ein Phänomen unserer Zeit.

Kann es auch sein, dass man Faszien-Beschwerden hat, ohne sie zu bemerken?

Ja, auch das gibt es. Der Körper verfügt über gewisse Toleranzen oder Pufferkapazitäten. D.h. die Faszien können damit beginnen, Veränderungsprozesse zu manifestieren, ohne dass der Körper unmittelbar mit Beschwerden oder Schmerzen reagiert. Erst nach einer Weile schleichen sich Schmerzen in den Alltag ein oder der Körper ermüdet unter Belastung deutlich schneller. Das können erste Hinweise sein, dass sich ein Ungleichgewicht im Körper etabliert und unterschiedliche Bereiche, also auch Faszien, davon betroffen sind.

Der Hara-Abdomen-Kurs scheint eine Sonderstellung innerhalb deiner fünf Kurse einzunehmen. Inwiefern?

Das Abdomen, oder der Rumpf schlechthin, bildet den zentralen Teil unseres Körpers. Der Rumpf – zusammen mit dem Kopf – beherbergt alle überlebenswichtigen Organe und Strukturen. Der Rest des Körpers wird entsprechend als Gliedmassen bezeichnet und diese dienen vor allem der Fortbewegung und Nahrungsversorgung. Verändern sich die Faszien des Abdomens oder des Rumpfes, hat dies unweigerlich Einfluss auf die Gewebe der Extremitäten.

Deshalb also ist das Hara bzw. das Abdomen so wichtig.

Ja. Ausserdem haben die viszeralen Bindegewebe und der Zustand des Abdomens einen starken Einfluss auf die Faszien von Kopf, Nacken und Schultern, weshalb ihnen in der FMT-Reihe eine besondere Stellung zukommt. Beschwerden von Nacken und Schultern sind leider auch ein Phänomen unserer Zeit und doch können wir diesen Menschen mit einfachen Techniken helfen.

Wie gut lässt sich FMT – zum Beispiel eine Faszienbehandlung am Nacken oder Knie – in Therapie-Methoden integrieren? Zum Beispiel in einen Massage-, Shiatsu- oder TuiNa-Ablauf?

Ich habe Techniken unterschiedlicher Methoden der Körperarbeit für die Behandlung von Faszien modifiziert. Je nach Situation und Indikation lassen sich diese FMT-Techniken für spezifische Beschwerden einsetzen – sozusagen als Spezialwerkzeuge. Die Techniken lassen sich sehr leicht in einen Massage-Ablauf, eine TuiNa-Behandlung oder andere Methoden integrieren. Sind zum Beispiel bei einer Klientin Massnahmen zur Verbesserung von Kniebeschwerden angebracht, kannst du deine eigenen und dir vertrauten Techniken problemlos mit den FMT-Techniken kombinieren und ergänzen. So erweiterst du deine Behandlung um eine weitere Dimension, die der Faszien.

Für die PatientInnen bzw. KlientInnen – sind FMT-Behandlungen angenehm? Oder schmerzhaft?

Die Behandlungen sind in der Regel nicht schmerzhaft. Mögliche Schmerzempfindungen rühren meist nicht von den Techniken, sondern eher von Einschränkungen der Bewegungskapazität, Verkürzungen von Geweben oder Verklebungen von Faszien. Diese lassen sich jedoch in den meisten Fällen mit etwas Geduld und Entschlossenheit leicht und schmerzfrei wieder lösen.

Was war dein grösstes Faszien-Aha-Erlebnis?

Eine eigene Knieverletzung vor mehr als 20 Jahren. Ich habe mir während eines Trainings einen Riss im Meniskus zugezogen, wie das MRI dann zeigte. Anfangs hatte ich gar nichts bemerkt. Erst nach einigen Stunden war das Knie stark angeschwollen und innert kurzer Zeit nicht mehr belastbar. Der untersuchende Arzt hat mir nach dem MRI umgehend den Prospekt in die Hand gedrückt und meinte nur: «Sie können am Empfang gleich den OP-Termin vereinbaren, wenn sie die Klinik verlassen. Wir sehen uns.» Ich ging nach Hause — ohne OP-Termin.

Warum denn das? Und der gerissene Meniskus?

Na, ich fragte mich: Würdest du dir eigentlich deine eigene Behandlung, die du deinen KlientInnen für 140 Franken verkaufst, auch selber abkaufen? Was würdest du jetzt tun, wenn die nächste Klinik hunderte von Kilometern entfernt wäre?

Ah, dann bist du selbst in eine Faszien-Behandlung? Oder hast dich gleich selbst behandelt?

Richtig, ich habe mich selbst behandelt. Als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, war die Schwellung restlos verschwunden und ich konnte mein Knie bewegen, nahezu schmerzfrei. Etwa acht Monate später war die Knieverletzung vollständig behoben und ich habe bis heute keine Beschwerden.

Gibt es auch Vorbehalte gegenüber der Arbeit mit Faszien?

Eher Unsicherheiten. Was mir nämlich auffällt: Viele Manual-TherapeutInnen sind unsicher, ob die Arbeit mit Faszien geeignet ist, ihre bisherigen Fähigkeiten und Methoden zu ergänzen und ob dafür bestimmte Vorkenntnisse notwendig sind. Da kann ich alle wirklich nur ermutigen, sich auf die Welt der Faszien einzulassen, egal aus welcher Methode der Körperarbeit sie kommen. Sie werden es ganz sicher nicht bereuen und in der Lage sein, vielen Menschen zu helfen.

Die Arbeit mit Faszien war vor einigen Jahren noch nicht so bekannt, doch jetzt hört man mehr und mehr davon.

Ja, die Faszienmedizin ist eine relativ neue Disziplin. Ihr wurde bisher lediglich im Spitzensport Bedeutung zugemessen. Auch noch erforscht, intensiv, wird der Einfluss der Bindegewebe auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit. Da zeigt es sich, dass Zustand und Zusammensetzung der Bindegewebe erheblichen Einfluss haben. In der Faszienmedizin ist viel Pioniergeist vorhanden und es gibt noch viel zu entdecken. In den letzten 15 Jahren wurde viel Literatur dazu publiziert, und beim Studium dieser Texte und Anatomiebilder merkt man mehr und mehr, wie bedeutend diese Faszien sind.

Wie bist du selber zur Faszienarbeit gekommen?

Über den Sport und während meiner Shiatsu-Ausbildung. Während meines Shiatsu-Studiums hatte ich die Gelegenheit, an Workshops mit sehr erfahrenen TherapeutInnen und LehrerInnen teilzunehmen. Da lernte ich die Welt der Faszien bei Saul Goodman, Claudia Beretta und Christian Schnabl kennen. Und ich habe ja einige Sportarten wettkampfmässig betrieben, darunter Kampfsport, Rad-Rennfahren und Schwimmen. Während dieser Zeit habe ich sehr viel über Training und den Körper im Allgemeinen gelernt. Muskelkater ist ein guter Faszienlehrer.

Was bedeutet das, «Muskelkater ist ein guter Faszienlehrer»?

Durch das viele und sehr intensive Training, habe ich natürlich Bekanntschaft mit Muskelkater gemacht. Ein Muskelkater macht einem sehr deutlich bewusst, bei welchen Bewegungen des Körpers die betroffenen Strukturen zum Einsatz kommen. Muskeln verfügen über viele Faszien. Extramuskuläre Faszien, also solche, die den Muskel umgeben und von benachbarten Muskeln trennen, und intramuskuläre Faszien, die die einzelnen Muskelstränge innerhalb des Muskels voneinander abgrenzen. Die Muskelfaszien sorgen vor allem dafür, dass innerhalb und ausserhalb der Muskeln möglichst wenig Reibungswiderstand zu benachbarten Muskeln oder Strukturen des Körpers entsteht. Entzündet sich ein Muskel, wie beim Muskelkater, sind die Faszien dieses Muskels auch betroffen und verkürzen sich mit. Das wird einem mit jeder ungünstigen Bewegung schmerzhaft bewusst und hebt die Funktion, die der betroffene Muskel im Körper hat, deutlich hervor.

Du bist auch Komponist, hast ein Musikstudium absolviert. Wie kam es dazu?

Kreativ tätig zu sein ist ein schöner Ausgleich für mich, für den ich sehr dankbar bin. Die Musik begleitet mich schon mein ganzes Leben und ich geniesse den Kontrast zur Körperarbeit sehr. Ich komponiere Film- und Medienmusik und betreibe seit 2006 in Basel ein eigenes Studio. Als ich im Verlauf der Zeit für immer grössere Produktionen angefragt wurde, habe ich mich entschlossen, Orchestrierung am Berklee College of Music in den USA zu studieren.

Hat Musik etwas mit Körpertherapie zu tun? Oder sind das zwei Welten?

Manchmal haben die Menschen, die in meine Praxis kommen, Ähnlichkeit mit verstimmten Musikinstrumenten. Es klingt nicht harmonisch, sondern etwas schräg und dissonant. Dann spanne ich hier ein paar Saiten und löse dort ein paar. Im besten Fall klingt die KlientIn danach wieder etwas harmonischer und ausgeglichener.

Du sagst, «du spannst Saiten».

Ja, es geht auch im Körper um Schwingungen und Resonanzen, wir schwingen und gehen in Resonanz mit Schwingungen. Entwickelt der Körper Beschwerden, wird dieses Schwingungs- und Resonanzverhalten gestört oder beeinträchtigt. Vielleicht sind die zwei Welten näher als man meint.

Danke für das Gespräch, Voja.

Ja, Martin gern.

Bild von Voja Anicic, Faszien in der Manuellen Therapie; Foto: zVg

Vojislav Anicic ist Shiatsu-Therapeut, Personal Trainer, Komponist von Film- und Medienmusik und unterrichtet den von ihm entwickelten Lehrgang FMT (Faszien in der Manuellen Therapie), auch international. Seine Praxis für Ausrichtung und Körperarbeit sowie sein Tonstudio führt er in Basel, wo er auch lebt.
www.fmt.training
www.vstudios.ch

Zur Weiterbildung

FMT – Faszien in der Therapie von und mit Vojislav Anicic

Faszien-Weiterbildung für Manuelle TherapeutInnen von und mit Vojislav Anicic

Infoanlässe

Alle zwei Wochen, mal online, mal vor Ort, mal beides

Info-Veranstaltungen
https://www.heilpraktikerschule.ch/newsroom/news-detail/news/2023/07/14/wo-der-kopf-befestigt-ist